Politische Kultur

 Die Entwicklung der politischen Kultur in
 Deutschland am Beispiel des zivilen Ungehorsams

 Von: Dariush Nodehi

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Der Begriff "politische Kultur"


Der moderne Begriff "Politische Kultur" (engl. political Culture) wurde in entscheidender Weise von G. Almond 1956 in dem Aufsatz "comparative politcal systems" geprägt. Seinem Vorschlag folgend wurde er und die ihm zugrunde liegende Konzeption in den 50er Jahren zuerst in der Theorie und Forschungspraxis der politischen Wissenschaft in den USA und in Deutschland dann Anfang der 70er Jahre aufgenommen (Beck, 1986, S. 740).

Politische Kultur lässt sich in dieser Tradition definieren als die Gesamtheit der zu einer bestimmten Zeit in der Gesellschaft oder einer grösseren Gruppe der Gesellschaft eines Staates vorherrschenden politischen oder politisch wirksamer Anschauungen und Verhaltensweisen und der dieser zugrunde liegenden Werte. Sie sind verstandes- oder gefühlsmässige (kognitiv oder emotional) begründet und das Ergebnis einerseits der individuellen Lebensgeschichte und Sozialisation der Mitglieder dieser Gesellschaft oder gesellschaftlichen Gruppe (z.B. einer Schicht, Klasse oder ethnischen Minderheit). Andererseits sind sie Ergebnis der geschichtlich bedingten, überindividuellen Strukturen dieser Gesellschaft und ihrer staatlichen Organisationen (Beck, 1986, S. 740) .

Die politische Kultur in einem Staat besteht zum einen aus in der Gesellschaft vorhandenen Anschauungen, Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich auf konkrete und aktuelle politische Ereignisse, Probleme und Akteure beziehen, also vergleichsweise kurzfristig wirksam sind und sich rasch ändern (können). Zum anderen aus gesellschaftlichen Orientierungen gegenüber dem politischen System, seinen Teilbereichen, Institutionen und Leistungen im ganzen, die auf weltanschaulichen oder ideologisch begründeten politischen Überzeugungen und Werthaltungen beruhen (die also z.B. konservative, liberale oder sozialistisch demokratisch oder antidemokratisch sind) und deshalb vergleichsweise dauerhaft wirksam und stabil sind. Doch auch diese und damit die politische Kultur im ganzen sind (wie etwa der deutschen politischen Kultur zeigt) zumindest langfristig geschichtlichem Wandel unterworfen. (Berg-Schlosser, Schissler, 1987, S. 13).

Damit ist für die "Politische-Kultur-Forschung" als Bestandteil der Politikwissenschaft die Bedeutung des subjektiven Faktors zur Erklärung politischer Phänomene kennzeichnend.
Die Politische-Kultur-Forschung befasst sich mit Eigenschaften von Gruppen, die sich in folgender Weise systematisieren lassen (Almond, 1997, S. 29):

" 1.   Politische Kultur bezieht sich auf das Muster subjektiver Orientierungen
        gegenüber Politik innerhalb einer ganzen Nation oder ihrer Teilgruppen.

   2.  Politische Kultur hat kognitive, affektive und evaluative Bestandteile. Sie
        schliesst Kenntnisse und Meinungen über politische Realität, Gefühle über
        Politik und politische Werthaltungen ein.

   3.  Der Inhalt ist das Ergebnis von Kindheitssozialisation, Erziehung,
        Medieneinfluss und Erfahrungen im Erwachsenenleben mit Leistungen von
        Regierung, Gesellschaft und Wirtschaft.

   4.  Politische Kultur beeinflusst die Struktur von Regierung und Politik und ihre
        Leistungen, schränkt sie ein, aber determiniert sie sicherlich nicht völlig. Die
        Kausalpfeile zwischen Kultur, Struktur und Regierungsleistungen weisen in
        beide Richtungen. "

Als ein analytischer Vorzug wird gewertet, dass der Begriff "Politische Kultur" weder mit dem Begriff der allgemeinen Kultur noch mit der des politischen Systems zusammenfällt. "Politische Kultur" schliesst eine Lücke zwischen Individuum und politischen System. Die Forschung will das subjektive Ambiente eines Herrschaftssystems erfassen und seine Einbettung in einen historisch-wandelbaren Kontext von national-, regional- oder klassen- und generationsspezifischen Orientierungen vollziehen (Reichel, S. 1985. S. 121).

Allerdings muss festgehalten werden, dass die Verknüpfung dieser unterschiedlich besetzten Begriffe "Politik und Kultur" nicht unproblematisch ist. Der konkrete Inhalt ist vage, der analytische Status umstritten. Konsens Über die Reichweite und den Erklärungswert des Begriffs bestehen nicht (Berg/Schlosser, S. 11, Reichel, 1985, S. 114 ff.).

In Deutschland erfolgte die Anwendung des Begriffs relativ zögerlich und z.T. in missverständlicher Weise. Letzteres hängt auch mit dem sehr unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs "Kultur" zusammen. Während es sich im Englischen um einen weitgehend deskriptiven Terminus handelt, wird der deutsche "Kultur"-Begriff in der Humboldschen Tradition meist in einem wertbezogenen, auf bestimmte Erscheinungsformen von "Hochkultur" in Kunst, Wissenschaft etc. gerichteten Sinn verstanden. Zu dieser von der  angelsächsischen Tradition abweichenden Anwendung hat auch die starke normative Tradition deutscher Politikwissenschaft beigetragen. (Berg-Schlosser, 1986, S. 385).

Entsprechend vielfältig sind die Phänomene und auch Forschungsrichtungen, an denen sich politische Kultur festmachen lässt:
Einstellungen der Bürger zum politischen System und politischen Parteien.
Akzeptanz demokratischer Institutionen und demokratischer Werte und Wahlverhalten.Vorhandensein einer kommunalen, regionalen, nationalen oder europäischen Identität.Partizipationsformen an kommunalen, regionalen, nationalen und europäischen politischen Bewegungen bzw. Teilhabe an politischen Prozessen bzw. Reaktion auf solche.

I.  Der Forschungsstand und Bedingungen für Veränderungen und  Entwicklung der politischen Kultur

Die neuere Politische-Kultur-Forschung, wie sie Almond begründete, verabschiedete sich von eher generalisierenden und pauschalierenden Ansätzen der "Nationalcharakter Forschung" (Berg-Schlosser,Schissler, 1987, S. 18).

Sie nahm ihren Ursprung in der amerikanischen Sozialwissenschaft, deren Interesse in den 50er Jahren auf eine Erklärung des Zusammenbruchs der Weimarer Demokratie und des Aufstiegs des Nationalsozialismus gerichtet war, während sich die Demokratien in Grossbritannien und den USA als widerstandsfähig erwiesen (Almond, 1987, S. 27).

Liberale und marxistische Theorien hatten für dieses Phänomen keine Erklärungen. Erst unter Einbeziehung subjektiver Orientierungen und Gruppenphänomenen taten sich Erklärungsmuster auf (Almond, 1987, S. 28f.).

Am deutlichsten geprägt wurde die Forschung in der Tradition Almonds vom amerikanischen "behavioristischen" Forschungsstrang. Ausgehend von der klassischen "Civic-Culture-Studie" von Almond und Verba, 1963 gab es eine große Zahl von Nachfolgestudien über politische Einstellungen in den USA, Großbritannien, der Bundesrepublik und Italien. Neben der politischen Kultur in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften (heute würden wir wahrscheinlich von Dienstleistungs- bzw. Wissensgesellschaften sprechen) konzentrierte sich die Forschung auch auf die politische Kultur in kommunistischen Gesellschaften und bei der Rolle asiatischer Länder (Almond, 1987, S. 31).

In der aktuellen Forschung spielt die Transformation der sozialistischen in demokratische Gesellschaft sicher eine große Rolle.

Die Studien, die auf dieser Tradition aufbauen, zeigen für die westlichen Industrieländer im Verlauf der 50er bis 80er Jahre, dass sich Politische Kultur relativ schnell durch veränderte Verhältnisse und Erfahrungen ändern kann. So vollzog sich in Deutschland ein Wechsel von unpolitisch passiven Mustern zur demokratie-bejahenden, politisierten und artizipationsorientierten Kultur. Als Bedingungen für die Veränderung werden die persönliche historische Erfahrung des Desasters des Nationalsozialismus, eine geschickte Verfassungsgebung, Struktur der Regierung und Politik (Förderales System, Wahlsystem, Parteienlandschaft, konstruktives Misstrauens-Votum) sowie eine effiziente Ökonomie (Wirtschaftswunder, Soziale Marktwirtschaft) angeführt (Almond, 1987, S. 34).

Umgekehrt wird für die USA und Großbritannien festgestellt, dass das Vertrauen in und der Legitimierte von politischen, ökonomischen und sozialen Führungen und Institutionen sank. Die Niederlage des Vietnam-Krieges, der Watergate-Skandal, Rassenunruhen und die Bürgerkultur hätten in den USA dazu beigetragen. In Großbritannien werden soziale Spannungen, Gruppenrivalitäten, traditionelle Klassen-, Parteien- und Nationalbindungen sowie wachsende Unzufriedenheit mit den im Amt befindlichen Regierungen angeführt (Almond, 1987, S. 32).

Die Untersuchungen zeigen aber auch, dass grundsätzliche politische Überzeugungen wie die Legitimität von politischen Systemen beträchtliche Stabilität aufweisen. "Nur Katastrophen scheinen in der Lage zu sein, diese Einstellungen in kurzer Zeit zu ändern ansonsten geht der Wandel relativ langsam vor sich. Am stabilsten sind Einstellungen, Identitäten und Werthaltungen, die mit Volksgruppenzugehörigkeit, Nationalität und Religion zusammenhängen. Diese Primärbindungen scheinen fast unzerstörbar." (Almond, 1987, S. 35). Als weitere Bedingungen für Veränderungen und Entwicklungen der politischen Kultur werden das Bildungsniveau, die Entwicklung elektronischer Medien, aber auch verfassungsmässige und politisch-strukturelle Anpassungen genannt. Ganz allgemein gesprochen sind es also subjektiv erlebte Erfolge und Niederlagen politischer Handlungen, die ökonomische Verhältnisse, gesellschaftlicher und sozialer Wandel, die Veränderungen auslösen. Aber auch die Veränderungen grundlegender kultureller Muster, Wandlungen in der Familienstruktur, der frühkindlichen Sozialisation und im Erwachsenenleben spielen eine Rolle, lassen sich aber aufgrund von Interdependenzen schwerlich gewichten (Almond, 1987, S. 35).

Zu den wichtigen Methoden der Politischen-Kultur-Forschung in einem Staat zählt die empirische Sozialforschung, insbesondere der Statistik und Demoskopie. Sie besitzt vor allem Bedeutung für die Analyse und Erklärung der Stabilität oder Instabilität, des Wandels oder der Stabilität einer konkreten staatlichen Herrschaftsordnung (Beck, 1986, S. 740).

Kritisch wird gegenüber dieser positiv-empirisch arbeitenden Forschungsrichtung eingewandt, dass sie zwar die aggregierten politischen Orientierungen von Individuen in einer Gesellschaft und die Auswirkungen auf die Akzeptanz politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen analysiert. Aber umgekehrt auch politische Orientierungen nicht ex-ante gegeben sind, sondern sich im Kontext von Sozialstrukturen, institutionellen, situativen und sozialisatorischen Bedingungen wandeln (Reichel, 1985, S. 125).

Wie die Ausführungen weiter oben zeigen, werden diese Interdependenzen erkannt nach meiner Meinung erkannt: "Die Kausalpfeile zwischen Kultur, Struktur und Regierungsleistungen weisen in beide Richtungen" (Almond, 1987, S.29), aber können mit Hilfe von Umfragetechniken nicht adäquat überprüft werden. Ausgeblendet bleiben damit historische Aspekte und kultur-soziologische Traditionen. Neben der Fortentwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen sieht Berg-Schlosser in der Fortentwicklung mathematisch-statistischer Verfahren einen Grund für die Fortentwicklung der Forschung seit Mitte der 50er Jahre. Das Spektrum der Methoden reicht aber weiter, von hermeneutischen und anderen verstehbaren Erfahrungen über Dokumentations- und Inhaltsanalysen, teilnehmende Beobachtung etc. (Berg-Schlosser, 1986, S. 387).

Diesen Aspekten wird in neueren, sogenannten struktur-funktionalistischen Ansätzen Rechnung getragen. (Berg-Schlosser, 1986. S. 285; Berg-Schlosser, Schissler, 1987, S.13; Reichl, 1985, S. 121ff.).

Fazit: In diesem Spannungsfeld sozialwissenschaftlicher und historischer Methoden ist das Spektrum methodischer Vorgehensweisen sehr umfangreich. Verbindend ist aber, dass sie auf konkrete soziale Strukturen und die politisch-institutionellen Ausprägungen bezogen bleiben muss (Berg-Schlosser, Schissler, 1987, S. 20). Dazu zählen die weiter oben am Beispiel Deutschlands, Großbritanniens und USA dargelegten Faktoren.

Fallstudie: Über die Entwicklung von Zivilen Ungehorsam als Ziel der politischen Kultur in Deutschland

Begriffsdefinition

Das Wort "zivil" in der Zusammenhang "ziviler Ungehorsam" ist dem lateinischen "civilis" (den Bürger betreffend, bürgerlich) entlehnt. Infolge dessen bezieht es sich auf einen Bereich, den die Menschen als Bürger miteinander teilen. Dieser Bereich ist heute in einer funktionierenden Demokratie der öffentlich-politische Bereich. (Kleger,1993, S. 186).

Der Terminus "Ziviler Ungehorsam" ist eine Übersetzung von "civil disobedience". In der anglo-amerikanischen Tradition bedeutet "disobedience" eher eine Gehorsams- Verweigerung gegenüber Gesetzen (law) als gegenüber einer Ordnung als solcher (order). "Ziviler Ungehorsam" lässt sich begründen als moralisch begründeter Protest, der mit begrenzten Regelverletzungen den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit erreichen will. Denn Ziviler Ungehorsam ist immer etwas gesetzwidriges, obwohl die Möglichkeiten einer rechtlichen Rechtfertigungsfähigkeit nicht von vornherein ausgeschlossen ist" (Kleger, 1993, S.186).

Deshalb wird sich der Protest auch in mittelbarer Form äussern, z.B. in der Übertretung des Demonstrationsrecht, also gegen Gesetze oder Verordnungen. Ziviler Ungehorsam äussert sich in "einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber formal-juristisch gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik
herbeiführen soll" (Rawls, 1979, S.401).

Den Zivilen Ungehorsam gibt es nicht. Entsprechend lässt sich keine Dogmatik oder Theorie des Zivilen Ungehorsams statuieren. Dennoch lassen sich Merkmale nennen, die für eine begriffliche Eingrenzung hilfreich sind. Ziviler Ungehorsam verletzt gegebene Formen um eines höherrangigen Zieles willen. Daher verlangt diese Formverletzung eine strenge Kontrolle, inwieweit sie weiterhin geboten ist und welches Ausmass sie annahmen darf. Ziviler Ungehorsam ist auch nur solange "zivil" wie er sich durch strikte physische Gewaltlosigkeit auszeichnet (Narr, Roth, Vack, 1992, S. 42).

Für eine breite Fassung zivilen Ungehorsams sind zumindest notwendig Kriterien wie Gewaltlosigkeit, Gewissensbetimmtheit und Gesetzwidrigkeit zu nennen. Als politisch-demokratisches Phänomen ist der Zivile Ungehorsam an eine politische
Infrastruktur in und um die Aktionen gebunden, sonst verliert er sich in "symbolischen Aktionismus" von Kleingruppen und ist damit politisch nicht relevant. Ziviler Ungehorsam rechtfertigt sich als politische Bewegung durch die demokratische und solidarische Normen (Narr, Roth, Vack, 1992).

Die Geschichte eines Begriffes und seine politische Umsetzung

Der Ausdruck "ziviler Ungehorsam" erscheint erstmals 1866 in der posthumen Ausgabe eines Werkes des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau (1817-1862). "Nie wird es einen wirklich freien und aufgeklärten Staat geben, solange sich der Staat nicht bequemt, das Individuum als grössere und unabhängige Macht anzuerkennen, von welcher all seine Macht und Gewalt sich ableiten..." (Thoreau, 1973, zit. nach Mellon, 1992,S.47ff. ). Für Thoreau darf kein Gesetz höher bewertet werden als das Gesetz des individuellen Gewissens: "Nicht Respekt vor dem Gesetz sollte gepflegt werden, sondern vor der Gerechtigkeit. Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen, und das ist, jederzeit das zu tun, was mir recht erscheint."

Dieser radikale Individualismus, der von seinem ganzen Lebenslauf anschaulich belegt wird, wurzelt in der Überzeugung, dass der Mensch nur Mensch in der Treue zu seinem Gewissen bleibt. Thoreau sagt, dass darauf geachtet werden muss, dass ungerechte Politik nicht unbewußt mitgetragen wird. Als Antwort zur Frage, wie diese Prinzipien mit den praktischen Anforderungen an die Regierung in einer Gesellschaft zu vereinbaren sind, schlägt Thoreau einen Kompromiss vor, indem er zustimmt, dass der Mehrheitsverfahren alle Fragen regeln soll, außer wenn moralische Prinzipien berührt werden, denn Gut und Böse sind viel zu ernsthafte Angelegenheiten, um sie von einer Mehrheit bei Wahlen entscheiden zu lassen.
Die Verbreitung des Ausdrucks Ziviler Ungehorsam und die Demonstration seiner  Möglichkeiten verdanken wir im wesentlichen aber Gandhi. Die erste große von Gandhi geführte Kampagne gewaltfreien Widerstandes wurde am 11. September
1906 im Imperial Theater von Johannesburg ausgerufen. Zuvor war der Begriff "passiver Widerstand" benutzt worden (Mellon, 1992, S. 52).

Zuender der politischen Bewegungen des Zivilen Ungehorsams waren in Amerika die Bürgerrechtsbewegung und die Aktivitäten von Martin Luther King. Er zog es im allgemeinen vor, den Ausdruck "direkter gewaltfreie Aktion" zu verwenden, und
vermied somit den Aspekt der Gesetzesüberschreitung bei seinen Aktionen. Das Hauptziel ungehorsamer Bürger in den USA waren Bürgerrechte und der Vietnam-krieg. Mit diesen sozialen Bewegungen ging eine intensive Diskussion der Philosophen und Intellektuellen einher, die bis nach Europa strahlte. Sie wurde dann in den 80er Jahren in Europa durch die Proteste gegen die US-amerikanischen cruise missiles fortgesetzt (Burg van der, 1992, S. 57).

In den USA erleichterte die Bekanntheit der Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung sowie Martin Luther Kings Vorbild in Wort und Tat die Arbeit der gewaltfreien Gruppen, weil die Bevölkerung ein größeres Verständnis für Zivilen Ungehorsam zeigt. Schon in den 20er Jahren wurde auch in Deutschland diskutiert, ob gewaltfreier Widerstand (damals noch als "Non-Violence" bezeichnet) bzw. Ziviler Ungehorsam auf europäische Verhältnisse übertragbar sei. Allerdings wurden durch das NS-Regime die wenigen Ansätze gewaltfreier Bewegung zerschlagen, ihre Vertreter entweder ermordet oder in das Exil vertrieben (vgl. Stubenrauch, 1992, S. 85f).

In den 50er und 60er Jahren gab es nur eine kleine Protestszene in der Bundesrepublik und erste Ansätze von Protesten wie etwa die "Helgoland-Aktionen" in den 50er Jahren, die Ostermarschbewegung der 60er Jahre. In den politischen Debatten und in der Protestpraxis spielte der Zivile Ungehorsam lange Zeit keine grosse Rolle. Erst ab den 70er Jahren erwuchs daraus eine Protestbewegung, die anders als in den angelsächsischen Ländern in soziale Bewegungen und politischen Protest eingebunden war. Mit ihrer ausgeprägt individualistischen Tradition ist dort die Zivilcourage häufig religiös begründet.

Als Gründe führt Stubenrauch an, dass Ungehorsam in den USA einem Tabu-Bruch  gleichkam, der vor dem Hintergrund des "Zusammenbruchs" 1945, der Zeit des  Anti-Kommunismus und Kalten Krieges sowie Adenauer-Ära interpretiert werden muss.

Rückbesinnung auf Sekundärtugenden in der Nachkriegszeit wie – Disziplin, Fleiss, Ordnung, Ruhe und Sauberkeit – gekoppelt mit dem Festhalten an ungebrochenen normativen Orientierungen autoritärer Herrschaft der Vergangenheit vereinbarten sich schwer mit Aktionen des Zivilen Ungehorsam. (vgl. Stubenrauch 1982, S. 80ff). "Das war eine Wertekonstellation, gegenüber der jeder, der diesen Konsens durch begrenzte Regelverletzung durchbrach, als elementare Bedrohung des gesellschaftlichen "Friedens" angesehen werden musste (Stubenrauch, 1992, S. 82).

Ohne die Entwicklung des Zivilen Ungehorsams hier in allen Einzelheiten schildern zu wollen, gab es einige markante Stationen zu ihrer allmählichen Verbreitung auch in Deutschland. So wurde zwischen 1968 bis 1972 die APO-Bewegung von der Bürgerinitiativ-Bewegung abgelöst und "gewaltfreie Aufstand als Alternative zum Bürgerkrieg" gewann an Bedeutung (vgl. Stubenrauch, 1992. S.85).

Für konkrete Aktionen hatten die Menschen mittlerweile gute Vorbilder im Ausland – USA, England, Frankreich. So entwickelte sich die Anti-Kernkraft-Bewegung seit den 70er Jahren und die Blockadeaktionen an Militärstandorten gegen die amerikanischen Cruise Missiles wie etwa Mutlangen (vgl. dazu ausführlich Stubenrauch, 1992, S. 85ff). Dazu zählen aber auch das Kirchenasyl in Deutschland, Greenpeace und die Entstehung der Ökologie-orientierten Parteien wie die Grünen in Deutschland. Abschliessend soll durch einen kurzen Erfahrungsbericht die Motivation der Menschen zu Zivilem Ungehorsam aus ihrer persönlichen Biographie heraus dargelegt werden.

Empirische Bestandsaufnahme: Erfahrungen einer Seniorin ( Elisa Kauffeld)

"Ich bin 1913 als Tochter einer deutschen Familie in London geboren. Ich wurde dazu  erzogen, ein gut geöltes Rädchen in einer unmündigen Gesellschaft zu sein, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, keine Kritik äussern, Haltung bewahren. Als mir mit Hackenzusammenschlagen der Tod meines Mannes gemeldet wurde, hatte ich mit  stolzer Trauer zu reagieren. Als ich dem nicht nachkam, wurden mir Beruhigungstabletten verordnet, auf den Feldern der Ehre..., Frauen hatten zu dienen, immer nur für andere da zu sein, sie hatten kein Hobby und keine Freizeit.
Durch den Zivilen Ungehorsam mit den gerichtlichen Nachspielen habe ich endlich  gelernt, mich frei zu äussern, zu sagen, was mich bedrückt, z.B. die Sorge um die Welt meiner Enkelkinder; aber auch, wie die Lage der Frau im Patriarchat wirklich ist. Wie schnell macht man sie u.a. zu Gebaämaschine (Mutterkreuz damals- heute Leihmütter) und zu "Ersatzmännern" (Trümmerfrauen damals- heute Werbung zum Militär), und wie schnell können die Männer die Frauen diskriminieren (Hexen damals heute § 218) als hätte je eine Frau sich alleine in die Schwangerschaft gebracht.

1945 kurz nach der Befreiung von NS-Herrschaft war ich inzwischen verheiratet und wir waren wieder auf der Flucht aus Danzig in Bremen gelandet. Dort habe ich einmal zwischen Nachbarn und britischen Besatzungssoldaten gedolmetscht und bin wahrscheinlich deswegen als Spionin vor dem Standgericht verurteilt. Sie ließen mir überhaupt keine Möglichkeit der Verteidigung, das Urteil lautete Tod durch Erschießen. In meiner Angst umfasste ich meinen schon sichtbar dicken Bauch und
sagte, dass ich schwanger bin. Das endlich drang in ihr Bewußtsein und ich blieb am Leben. Trotz all dieser Erlebnisse dauerte es viele Jahre, bis ich begriffen hatte, dass gerade wir Alten uns aktiv gegen das Unrecht solcher Militärische Traditionen wehren müssen.

Jetzt widersetze ich mich der Verrnichtungswalze des Militärs, solange ich genötigt werde, mich gegen Gewalt und Verwerflichkeit, gegen Massen und Völkermord zu  wehren. Im Krieg habe ich die Angst in die Augen der Kinder gesehen und habe gelernt, sie ernst zu nehmen. Mit dem nachdrücklichem Wunsch, die Jugend, die für ihre Zukunft kämpfen, nicht allein zu lassen, wusste ich nun, wo meine Aufgabe liegt im Zivilen Ungehorsam, d.h. im kritischen Verfolgung politischer Vorgänge und darin, nicht mehr alles als gegeben hinzunehmen, sondern mich einzumischen. Inzwischen bin ich mehre Male "straffällig" geworden; Zur Senioren Blockade in Mutlangen (8 bis 11.Mai 1986) ein paar Tage nach dem Gau in Tschernobyl nahm ich teil. Wieder war ich vom 9. bis 10. Oktober 1986 dabei. Meine nächsten "Straftaten" beging ich am 27./28. Juni 1988 vor dem Giftgaslager in Ludwigwinkel/Fischbach bei Pirmasens.

War ich zu Beginn meines Zivilen Ungehorsams noch bereit, die Strafe dafür ohne weiteres anzunehmen, so hat sich dies im Laufe meiner Straftaten geändert. Ich möchte hier noch einmal betonen, dass ich meine Sicht darstellen und nicht verallgemeinern will. Wir Zivilen Ungehorsamen sind loyale Bürgerinnen der Demokratie, aber einer Demokratie, die wirklich eine ist. Ich denke gewaltfreier, Ziviler Ungehorsam ist Ausdruck echter Müdigkeit, mündige Demokratie ist mehr als nur alle vier Jahre ein Kreuzchen machen, unsere Chance ist es, die Aktionen öffentlich zu machen und die Mitbürgerinnen über die Gefahren und gesundheitsschädigen Lasten, die kommende Generationen aufgebürdet werden, zu informieren. Alle diese Gedanken sind für mich eng verbunden mit zivilem Ungehorsam, sie sind die Konsequenz aus meiner Erlebnissen und Erfahrungen, Ziviler Ungehorsam ist das Gegenteil von Gehorsam um jeden Preis, und genau den muss meiner Generation sich zum Vorwurf machen Lassen. Mein Opponieren mit ungewöhnlichen Mitteln gibt mir die Möglichkeit, Mitmenschen in meinem Umkreis aufzuwecken. Ziviler Ungehorsam ist aus meiner Sicht eine Chance, lebendig und mündige Demokratie zu verwirklichen.
(Elisa Kauffeld, 1992, S. 117ff). "

Verbindung zu den theoretischen Ansätzen

Bei der Begriffsdefinition "Ziviler Ungehorsam" wurde herausgearbeitet, dass sie dem Anspruch der Politischen-Kultur-Forschung genügt: Eigenschaften von Gruppen zu analysieren und ihren Einfluss auf die Struktur des Regierens und der Politik. Ziviler Ungehorsam ist als politisches Phänomen nur interessant, wenn er über eine Infrastruktur verfügt und von gemeinsamen Aktionen lebt. Er ist in seinem Widerstand gegen herrschende Politik als politische Partizipation zu verstehen im Sinne einer Reaktion auf Politik.

In Kapitel II wurde gezeigt, dass sich Politische Kultur auf Muster subjektiver Orientierungen gegenüber Politik innerhalb einer ganzen Nation oder Teilgruppen zeigt. Dieser Aspekt zeigt sich beispielsweise in der sehr unterschiedlichen Tradition Zivilen Ungehorsams im angelsächsischen Raum (individuell, religiös geprägt) und in Deutschland (soziale Bewegungen). Es wurde auch der Versuch unternommen, den Einfluss der Geschichte auf das Phänomen darzustellen. In Deutschland war die Kriegserfahrung und die mangelnde demokratische Tradition prägend für die  Einstellung der Bevölkerung zum Zivilen Ungehorsam. Er ist eine Katastrophe, die zu einer Veränderung von Einstellungen und Werthaltungen führt und in neue politische Überzeugungen mündet, wie es Almond schildert.

In Kapitel II wurde auch gezeigt, dass Kenntnisse und Meinungen über politische Realität, Gefühle über Politik und Werthaltungen, Sozialisation und Erfahrungen im Erwachsenenleben mit den Leistungen der Regierung und Wirtschaft relevant sind.
Leider stehen bisher wenig systematische und Empirisch-fundierte Untersuchungen zu diesem Thema zur Verfügung (sofern meine Recherchen richtig sind). Der Erfahrungsbericht der Seniorin sollte aber Möglichkeiten zeigen, Motive, Beweggründe, den Einfluss historischer Erfahrungen für die Entscheidung zu Zivilem Ungehorsam aufzuzeigen. Methodisch wird zurückgegriffen auf den teilnehmenden Erfahrungsbericht und die Dokumentation, wie sie den Sammelband von Narr, Roth, und Vack kennzeichnen. Es ließe sich sicher auf eine empirisch breitere und damit aussagekräftigere Basis stellen.

Wie angedeutet wurde nicht untersucht, welchen Einfluss die Bürgerinitiativen auf die Politik hatten. Der Erfahrungsbericht der Seniorin zeigt ganz im Sinne Almonds aus meiner Sicht sehr eindrucksvoll, dass und wie subjektiv erlebte Erfolge und Niederlagen im persönlichen sozialen Kontext und aufgrund politischer Handlungen Veränderungen von politischen Einstellungen  auslösen kann.

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